Der
Kontrabaß
Das Stück entstand 1980 und wurde am 22.
September 1981 mit Nikolaus Paryla
als Regisseur und Darsteller des
Kontrabassisten im Cuvilliéstheater
in München uraufgeführt.
Nein, geboren wird man
wirklich nicht zum Kontrabaß. Der Weg dorthin führt über Umweg, Zufall und
Enttäuschung. Ich darf sagen, daß bei uns im Staatsorchester von acht
Kontrabassisten nicht einer ist, den das Leben nicht gebeutelt hätte und dem
die Schläge, die es ihm ausgeteilt hat, nicht noch heute ins Gesicht
geschrieben stünden. Ein typisches Kontrabassistenschicksal ist zum Beispiel
meines:
Dominanter Vater, Beamter,
unmusisch; schwache Mutter, Flöte, musisch versponnen; ich als Kind liebe
die Mutter abgöttisch; die Mutter liebt den Vater; der Vater liebt meine kleine
Schwester; mich liebt niemand - subjektiv jetzt. Aus Haß auf den Vater beschließe
ich, nicht Beamter, sondern Künstler zu werden; aus Rache an der Mutter aber
am größten, unhandlichsten, unsolistischsten Instrument; und um sie quasi
tödlich zu kränken und zugleich dem Vater noch einen Fußtritt übers Grab hinweg
zu versetzen, werde ich nun doch Beamter: Als Kontrabassist im Staatsorchester,
drittes Pult. Als solcher vergewaltige ich täglich in der Gestalt des Kontrabasses,
des größten der weiblichen Instrumente - formmäßig
jetzt -, meine eigene Mutter, und dieser ewige inzestuöse symbolische Geschlechtsverkehr
ist natürlich eine jedmalige moralische Katastrophe,
und diese moralische Katastrophe steht jedem von uns Bassisten ins Gesicht
geschrieben. Soviel zur psychoanalytischen Seite des Instruments. Bloß hilft
diese Erkenntnis nicht viel, weil . . . die Psychoanalyse ist ja am Ende.
Das wissen wir ja heute, daß die Psychoanalyse am Ende ist, und die Psychoanalyse
selbst weiß es auch. Weil, erstens wirft die Psychoanalyse viel mehr Fragen
auf, als sie selber lösen kann, wie eine Hydra - bildlich jetzt -, die sich
selbst den Kopf abschlägt, und das ist der innere nie zu lösende Widerspruch
der Psychoanalyse, an der sie selbst erstickt, und zweitens ist die Psychoanalyse
heute ja Allgemeingut. Das weiß ja heute jeder. Im Orchester sind ja von hundertsechsundzwanzig
Mitgliedern über die Hälfte in der Psychoanalyse. Da können Sie sich vorstellen,
das heute das, was vielleicht vor hundert Jahren noch eine sensationelle wissenschaftliche
Entdeckung gewesen wäre oder hätte sein können, heutzutage dermaßen normal
ist, daß sich darüber kein Mensch mehr aufregt. Oder wundert Sie das, daß
heute zehn Prozent depressiv sind? Wundert Sie das? Mich wundert das nicht.
Sehen Sie. Und dazu brauche ich keine Psychoanalyse. Viel wichtiger wäre es
- wo wir schon einmal dabei sind -, wenn wir vor hundert bis hundertfünfzig
Jahren eine Psychoanalyse gehabt hätten. Dann wäre uns beispielsweise von
Wagner einiges erspart geblieben. Der Mann war doch hochneurotisch. Ein Werk
wie Tristan beispielsweise, das größte, was er zustande gebracht hat, wie
ist denn das entstanden? Doch nur deshalb, weil er es mit der Frau von einem
Freund getrieben hat, der ihn jahrelang ausgehalten hat.
Jahrelang.
Und dieser Betrug, dieser, wie soll ich sagen, diese schäbige Verhaltensweise
hat ihn selber dermaßen vor sich selbst gewurmt, daß er daraus gleich die
angeblich größte Liebestragödie aller Zeiten machen mußte. Totale Verdrängung
durch totale Sublimierung. „Höchste Lust“ et cetera,
kennen Sie. Ehebruch war ja damals noch eine außergewöhnliche Sache. Und
jetzt stellen Sie sich vor, Wagner wäre damit zum Analytiker gegangen! Ja
- eins ist klar: Den Tristan hätte es dann nicht gegeben. Soviel steht fest,
denn dazu hätte die Neurose dann nicht mehr ausgereicht. - Er hat ja übrigens
auch seine Frau geschlagen, der Wagner. Die erste natürlich. Die zweite
nicht. Die bestimmt nicht. Aber die erste hat er geschlagen. Überhaupt ein
unangenehmer Mensch. Scheißfreundlich hat er sein können, wahnsinnig charmant.
Aber unangenehm. Ich glaube, er hat sich selbst nicht leiden können. Hat
ja auch dauernd Gesichtsausschläge gekriegt vor lauter . . . Ekelhaftigkeit.
Naja. Aber die Frauen haben ihn mögen, reihenweise. Starke
Anziehung auf Frauen ausgeübt, der Mann.
Unbegreiflich . . .
Er
überlegt.
.
. . Die Frau spielt ja in der Musik eine untergeordnete Rolle. In der schöpferischen
Musikgestaltung, meine ich. Oder kennen Sie eine namhafte Komponistin?
Eine einzige? Sehen Sie! Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht? Darüber
sollten Sie einmal nachdenken. Über das weibliche in der Musik schlechthin,
vielleicht. Jetzt ist ja der Kontrabaß ein weibliches Instrument. Trotz
seinem grammatikalischen Geschlecht ein weibliches Instrument - aber ein
todernstes. Wie ja auch der Tod - jetzt assoziativer Gefühlswert - weiblich
ist in seiner bergenden Grausamkeit oder - wie man will - seiner unausweichlichen
Schoßfunktion; zum anderen auch als das Komplementäre zum Lebensprinzip,
Fruchtbarkeit, Muttererde und so
weiter, hab ich recht? Und in dieser Funktion - jetzt wieder musikalisch
zu reden - bekämpft der Kontrabaß als Todessymbol das absolute Nichts, in
das Musik und Leben gleichermaßen zu versinken drohen. Wir, die Kontrabassisten,
sind so gesehen die Zerberusse an den Katakomben des Nichts, oder andersherum
der Sisyphos, der die Sinneslast der ganzen Musik auf den Schultern den
Berg hinaufwälzt, bitte stellen Sie sich das bildlich vor!, verachtet, angespien und mit zerhackter Leber - nein, das war der andere
. . . Prometheus war das - apropos: Letzten Sommer waren wir mit der gesamten
Staatsoper in Orange, Südfrankreich, Festspiele. Extra Vorstellung von Siegfried,
bitte sich das vorzustellen: Im Amphitheater von Orange, einem annähernd
zweitausend Jahre alten Gebäude, klassisches Bauwerk aus einer der zivilisiertesten Epochen der Menschheit, unter den Augen des
Kaisers Augustus, tobt das germanische Göttervolk, schnaubt der Lindwurm,
flegelt Siegfried über die Bühne, grob, fett, >boche<,
wie die Franzosen sagen . . . – Wir bekamen zwölfhundert Mark pro Mann,
aber mir war diese ganze Vorstellung so peinlich, daß ich höchstens ein
Fünftel der Noten spielte. Und hinterher – wissen Sie, was wir hinterher
gemacht haben? Wir alle vom Orchester? Besoffen haben wir uns, wie die Proleten
haben wir uns aufgeführt, gegrölt bis drei Uhr nachts, voll boche,
die Polizei hat kommen müssen, wir waren so verzweifelt. Leider, die Sänger
haben sich damals woanders besoffen, sie sitzen nie zusammen mit uns vom
Orchester. Sarah – ist auch bei denen gesessen. Sie hat Waldvögelein gesungen.
Die Sänger haben auch in einem anderen Hotel gewohnt. Sonst wären wir uns
vielleicht damals begegnet . . .
Ein
Bekannter von mir hat einmal was gehabt mit einer Sängerin, eineinhalb Jahre
lang, aber er war Cellist. Ein Cello ist ja nicht so sperrig wie ein Baß.
Das stellt sich nicht so dermaßen mächtig zwischen zwei Menschen, die sich
lieben. Oder lieben wollen. Da gibt’s auch jede Menge Solostellen für Cello
– Prestige jetzt -, Tschaikowski Klavierkonzert, Schumann Vierte Sinfonie,
Don Carlos und so weiter. Und trotzdem, ich sage Ihnen, mein Bekannter ist
völlig zermürbt worden von seiner Sängerin. Er hat Klavier lernen müssen,
damit er sie begleiten kann. Sie verlangte es einfach von ihm, und aus lauter
Liebe – jedenfalls war der Mann nach kürzester Zeit der Korrepetitor der
Frau, die er liebte. Ein miserabler übrigens. Wenn sie zusammen gespielt
haben, war sie ihm turmhoch überlegen. Sie erniedrigte ihn förmlich, das
ist die Kehrseite des Monds der Liebe. Dabei war er, was das Cello anlangt,
der bessere Virtuose als sie mit ihrem Mezzosopran, weitaus besser, kein
Vergleich. Aber er mußte sie ja unbedingt begleiten, er wollte ja unbedingt
mit ihr spielen. Und für Cello und Sopran gibt’s nicht viel. Sehr wenig.
Fast so wenig wie für Sopran und Kontrabaß . . .