GESCHICHTEN - LIEDER - GEDICHTE

FÜR MÄNNER IN EKSTASEN + ANDEREN E R W E I T E R T E N  ZUSTÄNDEN

TITELSCHUTZ UND ALLE RECHTE: CLAUDIO de CEOLA

Der Kontrabaß

von PATRIK SÜSKIND - Auszug (DIOGENES)

Das Stück entstand 1980 und wurde am 22. September 1981 mit Nikolaus Paryla

als Regisseur und Darsteller des Kontrabassisten im Cuvilliéstheater

in München uraufgeführt.

 

Nein, geboren wird man wirklich nicht zum Kontrabaß. Der Weg dorthin führt über Umweg, Zufall und Enttäuschung. Ich darf sagen, daß bei uns im Staatsorchester von acht Kontrabassisten nicht einer ist, den das Leben nicht gebeutelt hätte und dem die Schläge, die es ihm ausgeteilt hat, nicht noch heute ins Gesicht geschrieben stünden. Ein typisches Kontrabassistenschicksal ist zum Beispiel meines:

Dominanter Vater, Beamter, unmusisch; schwache Mutter, Flöte, musisch versponnen; ich als Kind liebe die Mutter abgöttisch; die Mutter liebt den Vater; der Vater liebt meine kleine Schwester; mich liebt niemand - subjektiv jetzt. Aus Haß auf den Vater beschließe ich, nicht Beamter, sondern Künstler zu werden; aus Rache an der Mutter aber am größten, unhandlichsten, unsolistischsten Instrument; und um sie quasi tödlich zu kränken und zugleich dem Vater noch einen Fußtritt übers Grab hinweg zu versetzen, werde ich nun doch Beamter: Als Kontrabassist im Staatsorchester, drittes Pult. Als solcher vergewaltige ich täglich in der Gestalt des Kontrabasses, des größten der weiblichen Instrumente - formmäßig jetzt -, meine eigene Mutter, und dieser ewige inzestuöse symbolische Geschlechtsverkehr ist natürlich eine jedmalige moralische Katastrophe, und diese moralische Katastrophe steht jedem von uns Bassisten ins Gesicht geschrieben. Soviel zur psychoanalytischen Seite des Instruments. Bloß hilft diese Erkenntnis nicht viel, weil . . . die Psychoanalyse ist ja am Ende. Das wissen wir ja heute, daß die Psychoanalyse am Ende ist, und die Psychoanalyse selbst weiß es auch. Weil, erstens wirft die Psychoanalyse viel mehr Fragen auf, als sie selber lösen kann, wie eine Hydra - bildlich jetzt -, die sich selbst den Kopf abschlägt, und das ist der innere nie zu lösende Widerspruch der Psychoanalyse, an der sie selbst erstickt, und zweitens ist die Psychoanalyse heute ja Allgemeingut. Das weiß ja heute jeder. Im Orchester sind ja von hundertsechsundzwanzig Mitgliedern über die Hälfte in der Psychoanalyse. Da können Sie sich vorstellen, das heute das, was vielleicht vor hundert Jahren noch eine sensationelle wissenschaftliche Entdeckung gewesen wäre oder hätte sein können, heutzutage dermaßen normal ist, daß sich darüber kein Mensch mehr aufregt. Oder wundert Sie das, daß heute zehn Prozent depressiv sind? Wundert Sie das? Mich wundert das nicht. Sehen Sie. Und dazu brauche ich keine Psychoanalyse. Viel wichtiger wäre es - wo wir schon einmal dabei sind -, wenn wir vor hundert bis hundertfünfzig Jahren eine Psychoanalyse gehabt hätten. Dann wäre uns beispielsweise von Wagner einiges erspart geblieben. Der Mann war doch hochneurotisch. Ein Werk wie Tristan beispielsweise, das größte, was er zustande gebracht hat, wie ist denn das entstanden? Doch nur deshalb, weil er es mit der Frau von einem Freund getrieben hat, der ihn jahrelang ausgehalten hat.

Jahrelang. Und dieser Betrug, dieser, wie soll ich sagen, diese schäbige Verhaltensweise hat ihn selber dermaßen vor sich selbst gewurmt, daß er daraus gleich die angeblich größte Liebestragödie aller Zeiten machen mußte. Totale Verdrängung durch totale Sublimierung. „Höchste Lust“ et cetera, kennen Sie. Ehebruch war ja damals noch eine außergewöhnliche Sache. Und jetzt stellen Sie sich vor, Wagner wäre damit zum Analytiker gegangen! Ja - eins ist klar: Den Tristan hätte es dann nicht gegeben. Soviel steht fest, denn dazu hätte die Neurose dann nicht mehr ausgereicht. - Er hat ja übrigens auch seine Frau geschlagen, der Wagner. Die erste natürlich. Die zweite nicht. Die bestimmt nicht. Aber die erste hat er geschlagen. Überhaupt ein unangenehmer Mensch. Scheißfreundlich hat er sein können, wahnsinnig charmant. Aber unangenehm. Ich glaube, er hat sich selbst nicht leiden können. Hat ja auch dauernd Gesichtsausschläge gekriegt vor lauter . . . Ekelhaftigkeit. Naja. Aber die Frauen haben ihn mögen, reihenweise. Starke Anziehung auf Frauen ausgeübt, der Mann.

 Unbegreiflich . . .

Er überlegt.

. . . Die Frau spielt ja in der Musik eine untergeordnete Rolle. In der schöpferischen Musikgestaltung, meine ich. Oder kennen Sie eine namhafte Komponistin? Eine einzige? Sehen Sie! Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht? Darüber sollten Sie einmal nachdenken. Über das weibliche in der Musik schlechthin, vielleicht. Jetzt ist ja der Kontrabaß ein weibliches Instrument. Trotz seinem grammatikalischen Geschlecht ein weibliches Instrument - aber ein todernstes. Wie ja auch der Tod - jetzt assoziativer Gefühlswert - weiblich ist in seiner bergenden Grausamkeit oder - wie man will - seiner unausweichlichen Schoßfunktion; zum anderen auch als das Komplementäre zum Lebensprinzip, Fruchtbarkeit, Muttererde  und so weiter, hab ich recht? Und in dieser Funktion - jetzt wieder musikalisch zu reden - bekämpft der Kontrabaß als Todessymbol das absolute Nichts, in das Musik und Leben gleichermaßen zu versinken drohen. Wir, die Kontrabassisten, sind so gesehen die Zerberusse an den Katakomben des Nichts, oder andersherum der Sisyphos, der die Sinneslast der ganzen Musik auf den Schultern den Berg hinaufwälzt, bitte stellen Sie sich das bildlich vor!, verachtet, angespien und mit zerhackter Leber - nein, das war der andere . . . Prometheus war das - apropos: Letzten Sommer waren wir mit der gesamten Staatsoper in Orange, Südfrankreich, Festspiele. Extra Vorstellung von Siegfried, bitte sich das vorzustellen: Im Amphitheater von Orange, einem annähernd zweitausend Jahre alten Gebäude, klassisches Bauwerk aus einer der zivilisiertesten Epochen der Menschheit, unter den Augen des Kaisers Augustus, tobt das germanische Göttervolk, schnaubt der Lindwurm, flegelt Siegfried über die Bühne, grob, fett, >boche<, wie die Franzosen sagen . . . – Wir bekamen zwölfhundert Mark pro Mann, aber mir war diese ganze Vorstellung so peinlich, daß ich höchstens ein Fünftel der Noten spielte. Und hinterher – wissen Sie, was wir hinterher gemacht haben? Wir alle vom Orchester? Besoffen haben wir uns, wie die Proleten haben wir uns aufgeführt, gegrölt bis drei Uhr nachts, voll boche, die Polizei hat kommen müssen, wir waren so verzweifelt. Leider, die Sänger haben sich damals woanders besoffen, sie sitzen nie zusammen mit uns vom Orchester. Sarah – ist auch bei denen gesessen. Sie hat Waldvögelein gesungen. Die Sänger haben auch in einem anderen Hotel gewohnt. Sonst wären wir uns vielleicht damals begegnet . . .

Ein Bekannter von mir hat einmal was gehabt mit einer Sängerin, eineinhalb Jahre lang, aber er war Cellist. Ein Cello ist ja nicht so sperrig wie ein Baß. Das stellt sich nicht so dermaßen mächtig zwischen zwei Menschen, die sich lieben. Oder lieben wollen. Da gibt’s auch jede Menge Solostellen für Cello – Prestige jetzt -, Tschaikowski Klavierkonzert, Schumann Vierte Sinfonie, Don Carlos und so weiter. Und trotzdem, ich sage Ihnen, mein Bekannter ist völlig zermürbt worden von seiner Sängerin. Er hat Klavier lernen müssen, damit er sie begleiten kann. Sie verlangte es einfach von ihm, und aus lauter Liebe – jedenfalls war der Mann nach kürzester Zeit der Korrepetitor der Frau, die er liebte. Ein miserabler übrigens. Wenn sie zusammen gespielt haben, war sie ihm turmhoch überlegen. Sie erniedrigte ihn förmlich, das ist die Kehrseite des Monds der Liebe. Dabei war er, was das Cello anlangt, der bessere Virtuose als sie mit ihrem Mezzosopran, weitaus besser, kein Vergleich. Aber er mußte sie ja unbedingt begleiten, er wollte ja unbedingt mit ihr spielen. Und für Cello und Sopran gibt’s nicht viel. Sehr wenig. Fast so wenig wie für Sopran und Kontrabaß . . .